Die in eine Frage mündende, offene Form
Werkschau von Gerhard Tiefenbrunn in der Städtischen Galerie Theodor von Hörmann
Gerhard Tiefenbrunn, 1957 in Landeck geboren, studierte von 1984 bis 1990 Grafik, Malerei und Fotografie an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und absolvierte dort die Meisterklasse von Oswald Oberhuber. Tiefenbrunns künstlerische Laufbahn wird von einem offenen Kunstbegriff geleitet, der sowohl Form, Genre, wie auch Medien immer wieder überschreitet, analysiert, neu verflicht und interpretiert.
Im Mittelpunkt der Imster Ausstellung steht die Schaffensperiode von 2014 bis 2020, die von heterogenen Werkszyklen und erneuter kreativer Auseinandersetzung mit dem eigenen Frühwerk geprägt ist. Wenn der Künstler sein frühen Arbeiten „wieder“ entdeckt, steht er damit in bester postmoderner Tradition. Als Reaktion auf die vergangene Zeit bricht er mit alten Anschauungen und beginnt, seine Kunst unter neuen, gegenwärtigen Aspekten zu überdenken und zu überarbeiten. Tiefenbrunn ist weit davon entfernt, Kunstwerke zu zerstören oder zu verwerfen. Im Gegenteil: Arbeiten werden aus ihrem historischen Korsett gelöst, dekonstruiert, zerlegt. Gerhard Tiefenbrunn arbeitet mit dem Resultat dieses erneuten Schaffensprozesses, mit dem Fragment. Das Fragment, die offene, unvollendete Form schlechthin, wird so als eigenständiges Motiv anerkannt, in einen Formenkanon überführt und als Ausgangspunkt für immer wieder neue künstlerische Interpretationen genützt. Das Fragment steht aber auch für die Unmöglichkeit eines abgeschlossenen, unverletzlichen Ganzen in der Kunst, das in der Realität des 21. Jahrhunderts ohnehin bereits zerbrochen ist.
Das gestalterische Auflösen von Strukturen, das Entfernen und Hinzufügen, das Erweitern und Konzentrieren erzeugen eine kreative Kraft der Vielfalt. Diese Energie führt Gerhard Tiefenbrunns Kunst aber auch in eine instabilen Zustand über. Die in Jahren etablierte Bildsprache ist nicht mehr starr. Sie wird abänderbar. Es herrscht eine stetige Dynamik der Ideen und Techniken, die sich in einem virtuellen Ausdruck manifestiert: Die in eine Frage mündende offene Form, deren Unterscheidung in das Mögliche und in das Wirkliche der Vorstellung des Betrachters überantwortet wird. Diese spannungsreiche Dynamik wirkt auch tief in die jüngst entstandenen Werkszyklen Tiefenbrunns. Die Arbeiten profitieren von der Vereinfachung, der Unschärfe, von Variation, von Auflösung und neuer Synthese. All diese Stilmittel fokussieren auf das sogenannte Erhabene; Auf die Sichtbarmachung des Nicht-Darstellbaren; Auf eine zeitlose allgemeingültige, zutiefst menschliche Substanz von Kunst.
Die Retrospektive zeigt Werke aus den Zyklen „Portraits“, „Reisebilder“, „Formenkanon 1 und 2", „Inflationäre Kunst“, „In Auflösung“, „Vorschau Summer Fashion 2020" und „Das Helle im Dunkel“.
Dr. Barbara Thaler (2020)